1919: Gründung der Arbeiterwohlfahrt
Eine unsichere, eine hoffnungsvolle Zeit
Was fällt Ihnen zum Jahr 1919 ein? Die meisten werden an die junge Weimarer
Republik, den Versailler Vertrag oder vielleicht auch an die Einführung des
Achtstundentages denken. Alten und jungen AWO-Mitgliedern fällt hingegen bei
dieser Jahreszahl sofort ein: 1919 wurde die Arbeiterwohlfahrt gegründet. Namen
und Gesichter von Männern, aber vor allem von Frauen werden lebendig: Marie
Juchacz, Hedwig Wachenheim, Lore Agnes, Walter Friedländer, Louise Schroeder...
Weniger lebendig und nachvollziehbar ist für die meisten, was das Leben und
der Alltag für die Menschen in den Jahren unmittelbar nach dem Ende des Ersten
Weltkrieges bedeuteten. 1919 bis 1994 in diesen 75 Jahren hat sich unsere Welt
politisch, technisch und wirtschaftlich so rasant und grundlegend gewandelt wie
in keinem anderen Jahrhundert davor. Auch wenn wir die Zeit nach 1918 und die
wilden Zwanziger noch aus den Erzählungen unserer Mütter, Großväter oder
Urgroßeltern kennen, bleibt sie uns sehr fern.
1919 ist ein unsicheres und revolutionäres Jahr, ein hoffnungsvolles Jahr.
Zusammenbruch der alten Ordnung
Nur wenige Wochen vor dem Jahreswechsel 1918/19 bricht in Deutschland die
Revolution aus. In den Hauptstädten der deutschen Länder übernehmen die
Arbeiter und Soldaten die Macht. Wie ein Kartenhaus brechen jahrhundertealte
Monarchien zusammen. Der neue Reichskanzler Friedrich Ebert ruft die Republik
aus. In diese neugegründete Republik werden viele Hoffnungen gesetzt.
Doch nach Ende des Weltkrieges steht das Hunger und Not leidende Deutschland
auch vor einem Bürgerkrieg. Gekämpft wird für oder gegen die Räterepublik,
für oder gegen die parlamentarische Demokratie, für oder gegen die Rückkehr
zur Monarchie. Spartakusaufstand, die Ermordung von Politikern und
Politikerinnen wie Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Kurt Eisner,
Generalstreiks, Attentate bestimmen diese Zeit.
Trotz der Unruhen finden am 19. Januar 1919 die ersten allgemeinen,
freien, gleichen und geheimen Wahlen für die Nationalversammlung statt. Am
Wahltag ist es im Reich ruhig und die Wahlen werden ohne Störung durchgeführt.
Zum erstenmal in der deutschen Geschichte nehmen Frauen an den Reichstagswahlen
teil. Zum erstenmal wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Ihr Ergebnis:
Um eine Regierung zu bilden, muss die SPD, stärkste Fraktion in der
Nationalversammlung, mit den bürgerliehen Parteien, dem Zentrum und den
Liberalen zusammenarbeiten.
Gleichzeitig erschüttern Generalstreiks, Verhängung des Ausnahmezustandes,
blutige Auseinandersetzungen die wenige Wochen alte Republik.
Druck von außen
Auch die außenpolitischen Entwicklungen machen es der jungen Republik nicht
leicht. Ende 1918 besetzen britische und französische Truppen das Rheinland.
Die Blockade der deutschen Häfen durch die Alliierten wird immer noch aufrecht
erhalten. Im Januar 1919 beginnt im Spiegelsaal des Versailler Schlosses die
Konferenz zur Vorbereitung des Friedensvertrages.
Vier Monate nach Beginn der Friedensverhandlungen werden der deutschen
Delegation in Versailles die Friedensbedingungen der Alliierten überreicht. Der
alliierte Vertragstext setzt die alleinige Kriegsschuld Deutschlands und der
Mittelmächte fest. Für Deutschland bedeutet dies unter anderem: ein
Landverlust von 70 000 Quadratkilometern, ein Bevölkerungsverlust von 7,3
Millionen. 75 Prozent der jährlichen Zink- und Eisenförderung, 28 Prozent der
Steinkohlenförderung, rund 20 Prozent der jährlichen Kartoffel und
Getreideernte müssen an die Alliierten ausgeliefert werden.
Der Mangel regiert
„Mangelernährung ist die Todesursache für viele Kinder" - so lautet
im Juni 1919 eine Schlagzeile in einer Berliner Zeitung. In der Charite
behandelt man fünfmal so viele Kinder mit Tuberkulose und Rachitis wie vor dem
Kriege. Ärzte berichten, dass in Berlin mindestens drei Viertel der
Bevölkerung in besorgniserregender Weise unterernährt seien.
Die Wohnungsnot ist groß. Für viele Menschen ist die letzte Zuflucht das
städtische Asyl für Obdachlose. Männer, die im Krieg gekämpft haben, müssen
wieder in das normale Leben zurückfinden, eine Arbeit aufnehmen. Angesichts der
hohen Arbeitslosigkeit eine schwierige Aufgabe. Sozialen Sprengstoff bietet auch
die Klausel des Versailler Vertrags, die eine Reduzierung des Heeres von 400 000
auf 100 000 Mann vorschreibt.
Dazu kommt noch, dass der Winter 1919/20 sehr hart ist.
Die Mark besitzt nur noch 20 Pfennig ihres Vorkriegswertes. Nahrungsmittel
werden knapp, Kohlen fehlen, die Menschen hungern und frieren. Die Wartezimmer
der Ärzte werden nur noch geheizt, wenn die Patienten Kohle mitbringen.
Hilfe ist notwendig
Marie Juchacz:
„Bei Kriegsausbruch brauchte man die Mitarbeit
der sozialdemokratischen Frauen auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege. Das
ist jetzt noch in viel stärkerem Maß der Fall." |
Dies ist die Zeit, in der die Arbeiterwohlfahrt gegründet wird.
Praktische Hilfe ist gefordert. Es gibt viel zu tun, die Not muss an
allen Ecken gelindert werden. Und die neue politische Situation macht es
- anders als im Wilhelminischen Kaiserreich - möglich, die Rechte der
Schwachen gegenüber dem Staat vehementer durchzusetzen. Statt der
bisher üblichen Armenpflege, die den Hilfebedürftigen wie einen
Almosenempfänger behandelte, ist das sozialdemokratische Verständnis
von Wohlfahrtspflege ein anderes: Es ist ein pflichtgemäßer Dienst der
Gemeinschaft.
Nur, es gab nach Kriegsende noch keine sozialdemokratische
Wohlfahrtspflege. „Freie Liebestätigkeit" war im Kaiserreich
eine Sache der bürgerlichen Frauen sowie der Caritas und der Inneren
Mission gewesen. Sie wurde als Damensport belächelt. Doch bereits in
den Kinderschutzkommissionen, die um die Jahrhundertwende gegründet
wurden, engagierten sich sozialdemokratische Frauen. Später
organisierten sie Kinderferien und Stadtranderholungen. Auch in der
Kriegswohlfahrtspflege brauchte man die Hilfe der Sozialdemokratinnen.
Hier entschieden sie mit über die Vergabe kommunaler und privater
Mittel an Bedürftige. Mit Kriegsende brach ihre Unterstützungsarbeit
allerdings ab, die Bedürftigkeit vieler Menschen blieb jedoch bestehen. |
Gründung der AWO
Dies sieht auch Marie Juchacz, die 1917 als Mitglied des Vorstandes
der SPD das Referat Frauenbewegung leitet: „Der Krieg hatte große
psychologische Veränderungen und solche der äußeren
Lebensgewohnheiten und Anschauungen verursacht. Nahrungsmittelmangel,
Teuerung, Massenerkrankungen als Folge von Unterernährung und
Überbeanspruchung, zerrüttetete Ehen, Verwilderung der Sitten,
allgemeine politische Verwirrung beherrschten das Bild des sozialen
Lebens." Für die Frauen, die jahrelang im „Nationalen
Frauendienst" mitgearbeitet hatten, ist es angesichts der großen
Not selbstverständlich, diese Tätigkeit - nun in enger Zusammenarbeit
mit der kommunalen Wohlfahrtspflege - fortzusetzen.
Eine Fortsetzung ihrer Arbeit ist aber nur möglich durch die
Gründung eines eigenen Wohlfahrtsverbandes. Gute Gründe dafür liefert
Marie Juchacz am 13. Dezember 1919, als sie in Berlin dem Hauptausschuss
der SPD die Gründung der Arbeiterwohlfahrt vorschlägt. „Es ist mir
oft schwer gewesen, innerhalb der Kreise, in denen ich zur Mitarbeit
berufen war, meine Autorität als Vertreterin der großen Arbeitskreise
geltend zu machen. Das lag zum großen Teil daran, dass wir keine
eigentliche Wohlfahrtsorganisation hinter uns hatten, sondern nur eine
politische Organisation, und dass wir immer nur gerufen wurden als
Persönlichkeiten, auf deren Rat man Wert legt."
Nur mit einer eigenen Wohlfahrtsorganisation wäre es möglich,
Einfluss auf die öffentliche Wohlfahrtspflege zu nehmen und bei der
Vergabe der Spenden aus dem Ausland berücksichtigt zu werden. Minna
Todtenhagen, die auch an der Ausschusssitzung teilnimmt, ergänzt die
Ausführungen von Marie Juchacz noch um einen weiteren Aspekt. Frauen,
die sich in der Wohlfahrtspflege engagierten, könnten auch zur
politischen Mitarbeit in den Gemeinden und der Partei gewonnen werden.
„Die Frauen, die in unseren Reihen mitarbeiten, die haben wir fest,
die wurzeln bei uns ganz anders, als solche, die nicht
mitarbeiten", so Todtenhagen.
Zur Erinnerung: Als die Arbeiterwohlfahrt ins Leben gerufen wurde,
hatte die Weimarer Verfassung den Frauen gerade erst - wenn auch nur
formal - die Gleichberechtigung mit den Männern garantiert. Und 1919
durften die Frauen erstmalig wählen und gewählt werden. Es war Marie
Juchacz, die am 19. Februar 1919 als erste Frau in einem deutschen
Parlament das Wort ergriff.
Marie Juchacz setzt ihre Idee „innerhalb der Parteiorganisation
eine sozialdemokratische Wohlfahrtspflege zu konstituieren" im
SPD-Parteiausschuss durch. Der Hauptausschuss der Arbeiterwohlfahrt wird
ins Leben gerufen. Die Prinzipien, die der Arbeit der Arbeiterwohlfahrt
zugrunde liegen, gehen von der Reform der gesamten Wohlfahrtspflege und
dem kontinuierlichen Aufbau eines funktionierenden Wohlfahrtsstaates
aus. |
Paul Löbe:
"Ich empfehle Ihnen, der Anregung Juchacz
zuzustimmen; denn wir haben eine Lücke auszufüllen."
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Auf dem Weg zum modernen Sozialstaat
Hermann Molkenbuhr:
„Im übrigen wird es dringend notwendig sein,
die ganze Wohlfahrtspflege neu zu organisieren." |
Aber in der ersten deutschen Republik blieben nur vier knappe Jahre
zwischen Inflation und Weltwirtschaftkrise, um auch nur ansatzweise
deutlich zu machen, wie ein künftiger Sozialstaat aussehen könnte.
Die vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen - zwei
Drittel der Mitglieder waren Frauen - in den Ortsvereinen der
Arbeiterwohlfahrt konnten in der Praxis nicht viel anderes tun, als die
Not vor Ort zu lindern und den Menschen ein Überleben zu sichern. Neue
Wege der Kinderverschickung wurde erprobt. Notstandsküchen, das
Verteilen von Nahrungsmitteln und Kleidung sowie die Beratung
Bedürftiger, die ihre Ansprüche bei den Wohlfahrtsämtern geltend
machen sollten, waren die Schwerpunkte ihrer Arbeit. Doch damals wurden
Grundsteine für Einstellungen und Entwicklungen gelegt, die wir heute
als selbstverständlich erachten.
Als Teil der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung setzte die
Arbeiterwohlfahrt sich in der Weimarer Republik für eine
Wohlfahrtspolitik ein, die auf den modernen Sozialstaat zielte. |
Aus dem AWO-Magazin, Autorin: Sabine Scheffler